Das Wahrheitsverständnis bei Emanuel Rádl
| docx | pdf | html ◆ článek, německy, vznik: 25. 6. 1969 ◆ poznámka: Přeloženo pro sborník k Patočkovým 60tinám; odevzdáno 25. 6. 1969 (pozn. aut.).
  • in: Algemeen Nederlands Tijdschrift voor Wijsbegeerte 76, 1984, č. 1, str. 1–12
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  • Pravda a praxe u Emanuela Rádla

  • Das Wahrheitsverständnis bei Emanuel Rádl [1969]

    Ladislav Hejdánek1

    So wendet sich jeder Philosoph an seine Zeit, die für ihn hic Rhodus, hic salta, bedeutet. Er hat Verlegenheit erlebt, er sieht die Gefahr, er hat eine Diagnose der Krise durchgeführt, er sucht nach Hilfe; als Medikament bietet er sein neues philosophisches Program an. — Deshalb lag eine grosse Philosophie jederzeit der Politik und den revolutionären Gesinnungen nahe. — Je grösser die Philosophie, desto mehr tritt ihr Grundzweck hervor: ein Programm für die Reform der Welt zu sein. Philosophie ist also ein Programm für die Reform der Welt und ihr Ziel ist die Tat. — Die Philosophie zielt zur Praxis, oder sie ist überhaupt keine Philosophie. — Fragt: zu welchem sozialen, politischen, ethischen, religiösen Kampf ruft ein philosophisches Werk auf — und ihr erfahrt, was für eine Bedeutung sie hat. — Um Wahrheit geht es sicherlich, aber die Wahrheit, die die Welt braucht, kann nur in einem Kampf siegen, und die Philosophie ist ein Aufruf zu diesem Kampf!“

    Emanuel Rádl, 1932

    Nach Rádl wird man, meiner Meinung nach, bei uns nie philosophieren können, ohne dass sich die Denker die Frage stellen, wofür sie eigentlich kämpfen, was für ein Menschentyp ihnen im Sinn liegt, was für ein gesellschaftliches Programm sie haben, mit wem und gegen wen sie stehen. Wenn dies Praktizität bedeutet, dann kann man sagen dass Rádl bei uns eine Auffassung der praktischen Philosophie durchgekämpft hat; jede unsere Philosophie, die sich über dieses Problem nicht klar werden will, wird unumgänglich angesichts dessen ein Verfall sein.“

    Jan Patočka, 1937

    Mit Rádls Wahrheitsverständnis haben sich mit verschiedener Gründlichkeit und Tiefe bereits mehrere Denker auseinandergesetzt (erwähnen wir mindestens Krejčí2, Kozák3, Smetáček4 und Patočka5. Der Positivist František Krejčí hat, trotz seines Respekts gegenüber Rádls denkerischen Qualitäten, seinem Wahrheitsverständnis Konfusität vorgeworfen; vor allem wandte er ein dass die Wahrheit nichts Wirkliches (kein ens reale) sei, dass sie blosser Begriff und dazu noch ein relativer Begriff sei — sie solle nur Eigenschaft der Urteile sein. In Rádls Ansichten sah er Unbestimmtheit und Schwankenheit, formalen logischen Irrtum und filigranen Gedankenbau, der sofort stürtzt, wenn man anstatt „Wahrheit“ genauer „Erkenntnisse“ sagt. Krejčí erkannte, dass zwischen Rádls Standpunkt und dem Positivismus ein direkter Abgrund ist, aber er war nicht imstande, wie es scheint, die eigentliche Richtung und das wahre Gewicht des Rádlschen Gedankenganges und seiner Gründe zu fassen. Sieben Jahre später erkannte allerdings Jan Patočka sehr klar, dass das Ziel des mutigen und konzeptionsmässig grossen Versuchs Rádls „nichts Geringeres als eine Umwälzung aller anerkannten philosophischen Werte, eine Überwindung der ganzen westeuropäischen Tradition des Denkens“ ist; wenn sich Rádl gegen den Positivismus wendet, so tut er das in dem Punkte, wo der Positivismus „uralte, wahrlich schon antike Gedankenwurzeln hat“. Deshalb muss man Rádls „Verständnis des Positivismus als einer intellektualistischer Verkehrtheit der modernen Wissenschaft, des modernen naturwissenschaftlichen Rationalismus verstehen, der ursprünglich ausgezogen ist, um die Welt zu erobern, und sich selbst entfremdet von der Expedition zurückkehrte. Es reicht nicht, gegen den Positivismus andere Theorien zu stellen; die Kritik des Positivismus führt bis zur Wurzel aller westlichen Philosophie, ihres wesentlichen Intellektualismus, der angeblich von dem griechischen Denken übernommen wurde. Die Kritik des Positivusmus muss in eine Kritik des Intellektualismus überhaupt heranwachsen.“ Laut Patočka ist dieser Versuch Rádls gescheitert und kann uns aus wesentlichen Gründen nicht befriedigen. — Aber welcher philosophischer Versuch scheiterte nicht? Und welcher kann uns völlig befriedigen? Wäre nicht solch eine Befriedigung bloss eine grosse Illusion? Muss nicht, aus dem Wesen der Dinge her, ein jeder philosophischer Versuch angesichts der Wahrheit scheitern, die definitiv zu fassen, zu fixieren und an Begriffe und Formeln zu binden ihm doch nie gelingen wird?

    Wenn Krejčí betonte, dass die Wahrheit eine Eigenschaft der Urteile ist, berief er sich eigentlich auf eine sehr alte Gedankentradition, die in der antiken Auffassung begann, welche vor allem von Platon und Aristoteles präzis formuliert wurde. Und eben gegen diese Tradition, die bis heute lebt, wendet sich Rádl,6 wenn er die Wahrheit als absolute Wirklichkeit versteht, die man nur teilweise, relativ in Urteilen fassen kann. Allerdings nicht nur in Urteilen; seit Anfang an verteidigt Rádl die Einheit des menschlichen Lebens und widerspricht ebenso der Kantschen Teilung des Lebens in Sinnlichkeit und Verstand, wie auch später jeder „Spaltung des Menschen in ein erkennendes und handelndes Wesen, in Wissenschaftler oder Dichter, die der Öffentlichkeit gehören, und in private Person“. Und so lesen wir bereits in den ersten philosophischen Schriften Rádls, der ursprünglich ein Naturwissenschaftler, nämlich ein Biologe war, dass die Wahrheit weder in den Fakten, noch in den Theorien, noch in der Philosophie sich befindet; sie ist weder auf dem Papier, noch in den Experimenten, weder im Verstand, noch im Herzen; sie ist nicht in der Wissenschaft; sie ist weder in Formeln, noch in Taten, in Handlungen. Fast nach einem Viertel Jahrhundert prägt Rádl in seiner „Geschichte der Philosophie“ denselben Gedanken, wenn er schreibt über „Wahrheit, die keine wahrnehmbare und also keine formulierbare Sache ist, die weder durch das Evangelium, noch durch ein Kredo, noch durch philosophischen Beweis gegeben wird (denn alle diese Dinge sprechen als ob durch Leib und Raum)“. Rádls Nachdruck darauf, dass die Wahrheit keine wahrnehmbare und formulierbare Sache sei, trägt auch schon ein älteres Datum; bereits in seiner „Geschichte der Entwicklungstheorien in der Biologie des XIX. Jahrhunderts“ können wir lesen, dass die Wahrheit kein Ding ist. Der Versuch, die Wahrheit nicht nur von jedweder ihrer Auffassung, sondern von jeder Art Dinglichkeit, Gegenständlichkeit abzusondern, der Versuch um Auffassung der Wahrheit als Nicht-Ding, Nicht-Gegenstand, nicht-gegenständliche Wirklichkeit, ist für die ganze Philosophie Rádls kennzeichnend. Laut Rádl können wir nicht über die Wahrheit sagen, „sie steht vor mir“, „sie ist etwas mir gegebenes, auferlegtes“; die Wahrheit „steht nicht neben uns“, sie ist kein neutral erkennbares Objekt oder Eigenschaft des Objektes“, deshalb ist sie auch „keine nur formale Übereinstimmung einer Aussage mit dem gegebenen Objekt der Erkennitnis“, aber auch kein kühles Gesetz eines objektiven Geschehens“. Deshalb können wir die Wahrheit nie in eine Formel schliessen, wir können die Wahrheit überhaupt nicht „haben“, wir können sie nicht „der Welt sagen“; „wir können sie höchstens mit einem Freund teilen“. Denn jeder Versuch sie zu erfassen ist nur relativ und erfaß die Wahrheit höchstens in Andeutung „wir betonen eben die Relativität aller Erkenntnisse und Formeln“.

    Die Erwähnung eines Freundes ist im Zusammenhang mit dem Wahrheitsproblem kennzeichnend; wir werden noch sehen, wie im Hintergrund der Hinweis auf besondere persönliche Anteilnahme, Verständnis, Sympathie steckt, ohne die keine Verständigung über die Wahrheit möglich ist. Das alles sind Formulierungen, die dem geläufigen Denken sehr entfernt sind. Rádls Wahrheitsverständnis, ebenso wie seine gesamte Philosophie, können wir erfassen, wenn wir seine Gedanken „von innen“ verfolgen werden. Rádl versucht nicht die Wahrheit zu beschreiben, vor unseren Augen aufzuzeichen, sondern sagt klar und deutlich, dies sei unmöglich. Seine Aussagen kann man nicht isoliert und sklavisch buchstäblich empfangen, denn ihm geht es immer nur um das teilweise und vorläufige, durch konkrete Umstände bedingte Erfassen von etwas, was über alle traditionellen Begriffskonstruktionen hinausreicht oder vielmehr sie zerschlägt und durchbricht. Diese Begriffskonstruktionen hören zwar ganz offensichtlich auf, als Knotenpunkte des Denkens zu dienen, doch wir können sie bis jetzt nicht entbehren. Wenn Rádl die Wahrheit als undinglich, als Un-ding versteht, also als ungegenständliche Wirklichkeit, wird er begreiflicherweise gezwungen, sich irgendwie mit dem gegenständlichen Denken auseinanderzusetzen, das die Tendenz hat, aus einem Nicht-Objekt wieder ein Objekt zu machen. Deshalb haben seine Aussagen, wie wir gesehen haben, eine überwiegend negative Form; Rádl sagt, was die Wahrheit nicht ist, was ihr nicht ähnelt und wo wir sie nicht finden können. Es wurde bereits gesagt — und der Leser seiner Schriften wird Gelegenheit haben, es mehrmals zu überprüfen — dass die Ausstattung des Rádlschen Denkens oft „abschreckend“ ist; aber finden wir Geduld für Formulierungen, die oft ihren Akzent in wilde Gesten übertreiben, um irgendwo dazwischen, fast in einer scheuen Andeutung, auf die Wahrheit als Wahre Wirklichkeit zu zeigen.

    So könnte es auf den ersten Blick scheinen, dass uns Rádl mit seinen Formulierungen rasch in einen vollen Skeptizismus treibt; er selbst ist sich der Möglichkeit solcher Missverständniss bewusst. Die Frage steht: wenn alles Wissen relativ ist, wie werden wir der Skepsis entgehen? … Die Antwort ist einfach: das Wissen ist relativ, aber absolute Wahrheit gibt es doch. Es ist uns zwar nicht gegeben worden, sie in Worten erfassen zu können, wir können sie auch nicht durch Taten ergreifen, aber doch leben wir in ihr, wir empfinden, dass wir einmal nahe stehen, dann wieder uns von ihr entfernen.“ Hier stehen wir vor einem wichtigen Problem: wann nähern wir uns der Wahrheit? Wenn die Wahrheit keine Sache, kein Ding, sondern eine nichtgegenständliche Wirklichkeit ist, entfernen wir uns dann nicht von den Sachen? Bedeutet unsere Orientierung auf die Wahrheit hin nicht, dass wir den Sachen unseren Rücken zeigen? Hier erscheint aber die wahre Gestalt des Realismus von Rádl (Der nicht ganz passende Name „Realismus“ wurde von Masaryk und seinen Anhängern gewählt); die Sachen — res — sind ernst genommen. Wir finden natürlich Stellen, die uns durch irgendeine scheinbare Missachtung der Realität der Sachen provozieren. Eine von solchen am meisten aufrührenden Stellen finden wir am Schluss der „Geschichte der Philosophie“, Bd.II, wo sich Rádl auf ein anderes Bild des Weltunterganges stützt, wie es uns die Naturwissenschaft bietet (die Sonne wird einmal Kalt, die Erde wird einfrieren, die Planeten werden in die Sonne stürzen und es kommt das Ende; die Geschichte der Menscheit war nur eine nichtige Episode; die Bewegung, die Bereitwilligkeit zur Hilfe für andere, der Kampf um die Wahrheit sind längst schon vorbei), und schreibt dann dagegen: „Der schwindende Zufall, den wir Natur, Materie und Naturgesetze und Ursache und Folge nennen, fällt in den Abgrund; er war so wie so nur eine zufällige Gelegenheit für den Menschen, der seine Sendung erfüllen sollte. Und wenn in einer Weltkatastrophe alles verschwindet, was vor unserem Intellekt die Naturwissenschaft entwickelte, bleibt als Einziges die Sendung des Menschen, die nicht von dieser Welt ist. Dann bleibt eine einzige Sache: das aufgeschwungene menschliche Gewissen; das Gesetz „du sollst“, als die einzige absolute, einzige gültige Wirklichkeit.“ Aber wer die Ausdrucksweise von Rádl kennt, bleibt nicht bei den Worten, sondern erfasst den Kern, um den es Rádl ging. Im Vergleich zur Wahrheit als nichtgegenständlicher Wirklichkeit ist die gesamte sachliche, gegenständliche Gegebenheit etwas sekundäres, abgeleitetes: „das, was sein soll, ist der Urheber dessen, was ist“. Die Wahrheit, jenes ewige Gesetz „du sollst“, ist wirklicher als die Wirklichkeit der Dinge. Die Dinge vergehen in der Veränderlichkeit des Weltallgeschehens; die Wahrheit ist von ihnen getrennt, denn sie ist „kein Bestandteil des Geschehens“. Aber das bedeutet für Rádl keinesfalls, dass der Mensch sich deswegen, weil „nichts materielles oder dogmatisch konstituiertes ewig dauert“, vielleicht von all dem abwenden sollte und nur das, was ewig ist, suchen sollte, um Ruhe und Sinn für sein Leben zu finden, Rádl beharrte immer auf der Bedeutsamkeit, Wichtigkeit und Wesentlichkeit dessen, was existiert, und zwar nicht nur in dem begrenzten Rahmen des geläufigen Lebens, sondern in einer absoluten, die Alten würden sagen metaphysischen Relevanz, in einer Relevanz in Beziehung selbst zur Wahrheit, das bedeutet Bedeutsamkeit von allem Realen, Dinglichen, „Materiellen“. Sachlichkeit, Dinglichkeitl, Faktizität, die Dinge überhaupt haben ihre eigene Existenz, die unmittelbar von der Wahrheit unabhängig ist. Schon am Anfang seiner philosophischen Laufbahn, wo er — irrtümlich — als ein vollständiger Subjektivist geschildert wurde, erklärt Rádl in seinen Betrachtungen, dass die Richtigkeit und Unrichtigkeit nur eine von den Eigenschaften der Dinge ist und nicht ihr Kern“. Das bedeutet: jedes Ereignis ist ein wirkliches Ereignis, jedes Faktum ist ein wirkliches Faktum, kein Anschein. Die Ansicht von jemandem ist nicht deswegen weniger wirklich, weil sie falsch ist; Fiasko und Katastrophe im persönlichen, nationalen, internationalen Leben sind nicht deshalb geringer und weniger wirklich, weil es Fiasko und Katastrophe sind. Die Dinge schreiten auf ihrem sachlichen unpersönlichen Wege ohne Rücksicht auf Wahrheit; die Wahrheit ist weder ein Faktum der Natur noch objektives Gesetz, und deshalb richten sich die Dinge nicht nach der Wahrheit. Wahrhaftigkeit und Unwahrhaftigkeit, Richtigkeit und Unrichtigkeit liegen nicht im Zentrum der Dinge, sie sind nicht ihre wesentliche und zentrale Qualität. Wenn ihr euch auf die Wahrheit beruft, könnt ihr euch nicht nur auf die Dinge berufen, denn auf diese kann sich eventuell mit gleichem Recht auch ihr Gegner berufen; die letzte Instanz überschreitet unausweichlich die Grenzen der Sachlichkeit. Dadurch wurde zugleich gesagt, dass die Sachlichkeit (und Dinglichkeit) auf ihre Art autonom und von der Wahrheit — mindestens unmittelbar — unabhängig ist. Wir kehren also zu unserer Frage zurück: welche ist, in Rádls Auffassung, die Beziehung zwischen der Wahrheit und den Dingen, d.h. zwischen der Wirklichtkeit der Wahrheit und der Wirklichkeit der Dinge?

    Die Autonomie, die Unabhängigkeit der Dinge von der Wahrheit ist letzten Endes nur ihre Indifferenz und gar Indolenz gegenüber der Wahrheit. Keinesfalls kann man aber von der Wahrheit sagen, dass sie gleichgültig gegenüber den Dingen ist, dass sie für die Dinge kein „Interesse“ hätte. Die Wahrheit ist eben deshalb kein Ding, weil sie nicht so inert ist, wie die Dinge. Die Wahrheit, im Gegenteil, ist selbst auf die Dinge und zu den Dingen gerichtet. Laut Rádl verfehlt völlig der, der die Wahrheit in Abwendung von den Dingen, von der gegebenen Wirklichkeit finden möchte. Die Wahrheit findest du nicht ohne Kompromiss mit der Wirklichkeit; nur wenn du praktisch die Fragen des alltäglichen Lebens und in der Wissenschaft, wenn du praktisch konkrete Probleme löst, kommst du zur Wahrheit; sicherlich machst du Fehler, sicherlich bleibt an deiner Wahrheit Staub und Dreck kleben, aber reine Wahrheit gibt es auf der Welt nicht“. Rádl rügt Kant wegen seines äussersten Dogmatismus, in dem — völlig auf Weise der Romantiker — er reine, absolute Wahrheit ohne alle Beziehungen zu den Dingen und Ereignissen sucht. „Kant glaubt auf Art und Weise der Dogmatiker, dass man die absolute Wahrheit formulieren kann, eine Wahrheit nämlich, die nicht eben jetzt, unter diesen Umständen gültig wäre, sondern die über die gesamte Zeit und den gesamten Raum und über alle Wirklichkeit erhoben würde und für alle Menschen aller Zeiten und unter allen Umständen gültig wäre.“ „Auch wir räumen der Vernunft souveräne Macht ein: auch wir erkennen nicht an, dass z. B. in der Geschichte ein fertiges Ereignis die Wahrheit in Lüge und Lüge in Wahrheit umwandeln könnte. Wer die Wahrheit hat, steht im Recht, geschehe was geschehe, aber keiner wird sich durch seine Wahrheit über den Lauf der Ereignisse stellen, sondern seine Wahrheit wächst aus ihnen und stösst mit ihnen zusammen, denn es ist die Wahrheit über Dinge und Ereignisse.“ Das gilt schon auf dem Gebiet der Natur: „unter dem Einfluss der Naturwissenschaft halten die Philosophen die naturwissenschaftlichen Abstraktionen für unsprüngliche, gegebene Natur“ und glauben, dass wir mit unserem wissenschaftlichen oder philosophischen Denken direkt das Wesen der Wirklichkeit der Natur berühren sollten und dass aus der Wissenschaft und der Philosophie die Natur selbst spricht. Abstrakte „Wahrheiten“, die immer und überall gelten, haben jedoch keinen grossen Wert; das eigene Element der Wahrheit ist hic et nunc, die Gültigkeit concretissime jetzt, unter diesen bestimmten Umständen. Und natürlich muss etwas von diesen Umständen in unserer Wahrheit haften bleiben; deshalb kann die Wahrheit selbst nur als aktuell begriffen werden.

    Wir sehen also, dass in Rádls Auffassung die Wahrheit auf diese Welt, auf Dinge, auf Objekte orientiert ist. Das ist nicht nur irgendeines unserer Mangel, dass wir die reine, absolute Wahrheit nicht erfassen können; es gehört im Gegenteil zu ihrem eigensten Wesen, dass sie selbst auf die Realität gerichtet und zur Wirklichkeit gewendet ist, das bedeutet zur konkreten, individuellen Wirklichkeit. Eben dieser Charakter der absoluten Wahrheit ist die wahre Ursache der sogenannten Relativität unserer Erkenntnisse, d.h. der Relativität der erkannten Wahrheit. Diese Relativität ist nichts anderes als Konkretheit, Individualität jeder erkannten Wahrheit. Es war nur eine Überschätzung des Verstandes, die im neunzehten Jahrhundert auf den Altar allgemeine Wahrheiten stellte, die für jeden gleich verbindlich waren; in der Tatsache liegen aber diese allgemeinen Wahrheiten höchstens in toten Büchern und verkümmern in den Auditorien, während das Leben nur individuelle Wahrheiten kennt.“ „Darin besteht das Paradox der Individualität: sie ist auf eine vollständige Wahrheit gerichtet, die sicher ist, aber auf dieser Welt kann sie ihre Gesinnung nach ihr ausstrecken, nur indem sie sich nach den Umständen der Umgebung richtet, die zufällich und chaotisch sind“. Das ist keine Gewalt gegenüber der Wahrheit, dass ihr Erfassen durch eine bestimmte Situation so bedingt ist, denn die Wahrheit selbst zielt schon auf diese Situation. Dessenungeachtet ist jedes solches Erfassen, Ausdrücken, Verwirklichen der Wahrheit doch noch von einer anderen Sache begleitet. Die Wahrheit wird hier gleichsam zu einem Ding, zu dinglicher Wirklichkeit, sie verkörpert sich in Gedanken und Taten, in Leben und Geschichte. „In der Geschichte des menschlichen Denkens wird die Warheit geboren, sie verbreitet sich, fällt und verschwindet, räumt das Feld einer anderen, auf die ein ähnliches Schicksal wartet. Plato schuf eine Wahrheit, Aristoteles eine andere, Descartes eine andere, Newton eine andere. Diese wissenschaftlichen und philosophischen Wahrheiten sind nicht nur eine Anhäufung der Richtigkeit und der Fehler, sonder sie sind Dinge, Naturerscheinungen, historische Ereignisse.“ Diese Verkörperung der Wahrheit in Fakten und Experimenten, in Formeln und Theorien, in Worten und Taten, diese Realisierung der Wahrheit bedeutet allerdings nie, dass die Wahrheit vollkommen zum Ding gemacht wurde, dass sie vollständig objektiviert, vergegenständlicht wurde, dass sie mit definitiver Gültigkeit in die Grenzen einer sachlichen, gegenständlichen Immanenz hingerissen wurde. Die Wahrheit selbst ist eine Wahrheit über Dinge und sie bezieht sich auf Dinge; sie kann deshalb nicht anders als relativ begriffen und ausgedrückt werden, d.i. in Beziehung zu einzelnen Dingen und konkreten Ereignissen. Aber die Wahrheit ist nie mit ihrem eigenen Begriffensein und Ausgedrücktsein identisch, sondern sie erhebt sich immer wieder über jede Formulierung, über jede eigene „Verkörperung“. „Wer an die Wahrheit glaubt, glaubt nicht nur an irgendeine praktische Äusserung irgendwelcher Zufälligkeiten, sondern für ihn sind die zeitlichen und relativen Äusserungen der Wahrheit nur ein Versuch, dem endgültigen und zweifellosen Glauben menschlich einen Ausdruck zu geben: dass die wirkliche, einzige, definitive Wahrheit existiert. Dabei wird er vielleicht auch mehrmals die Formulierung seines Glaubens an die Wahrheit ändern, er wird sich berichtigen und er wird sich nach dem relativen Fortschritt der Wissenschaft richten, aber eine relative Äusserrung der Wahrheit bedeutet nicht, dass die Wahrheit selbst relativ ist.“ „In dem Sinne sind uns also Formulierungen, Theorien, Auffassungen und Ansichten gegeben, aber die Wahrheit selbst ist uns nicht gegeben.“ Die Wahrheit „siegt“; sie ist uns nicht gegeben.“ Nur dieses Verständnis gestattete Rádl etwas zu sagen, was immer durch den Anschein eines völligen Relativismus und Subjektivismus aufregte besonders wenn der erste Satz aus seinem Kontext abgerissen wurde, vor allem von den nachfolgenden Sätzen: „Kant, Darwin, Haeckel, Mareš, alle haben recht. Aber die Wahrheit, das sind nicht die Formeln, die wir in ihren Büchern lesen und die ihre Schüler predigen, sondern die lebendige Wahrheit ist nur das, was diese Gelehrten zu ihren Schriften geführt hat, das Unbewusste, was nur manchmal und ohne menschlichen Willen in das Bewusstsein ausstrahlt, was aber den Menschen in seiner Handlung führt, was seinem ganzen Leben den Sinn gibt.“

    Die „Übermacht“ der Wahrheit über die Dinghaftigkeit und Gegenständlichkeit wird am besten erfasst, wenn wir sagen, dass sie siegreich ist. Schon allein die gebräuchliche Bedeutung des Wortes „Sieg“ weist aus den Grenzen der blossen Sachlichkeit hinaus. „Der Sieg ist in der Tat nichts materiell Gegebenes, man kann ihn nicht konstatieren, beschreiben, neutral feststellen, den Sieg kann man nur erringen — oder auf ihn verzichten. Der Sieg ist untrennbar vom Willen zum Sieg, von der Überzeugung der Kämpfenden, vom Ziel, für das man kämpft“. „Stimmt vielleicht nicht, dass der siegt, der länger durchhält?“ „Der Sieg ist die Sache einer Billanz, nich eine Naturerscheinung.“ Und eine Billanz kan eben keine neutrale Feststellung dessen, was ist, der gegebenen Wirklichkeit sein; sie ist nicht nur eine Feststellung, sondern zugleich auch ein Versprechen dessen, was sein wird, des Willens dazu, was sein soll. Das bedeutet keineswegs eine gewaltsame, subjektive Entstellung; eine Billanz kann nicht anders abgetan werden, als wie ein Versprechen, das zugleich bedeutet, was der Wissenschaftler beabsichtigt, was er für notwendig hält, was er von der Zukunft erwartet. Und dabei hört natürlich alle Unvoreingenommenheit auf. „Das Problem der Wahrheit und des Irrtums wird nicht gelöst durch Schauen auf den Kampf der Wahrheit und der Lüge, sondern durch aktive Teilnahme und durch persönliche Wahl der Wahrheit.“ „Nicht immer siegt die Wahrheit sofort; oft muss sie lange leiden, bevor sie sich dartut; wie erkennt ein pragmatischer Zuschauer, dass es sich um einen definitiven Sieg handelt und nicht um die Unterdrückung des Gerechten?“ Rádl geht es hier um den Akzent auf die notwendige persönliche Engagiertheit in der Beziehung zur Wahrheit, um den persönlichen Charakter der Wahrheit, die uns dringlich anspricht und zur Befolgung aufruft. In einem charakteristischen Paradox spricht Rádl über die Wahrheit, „die erst dann zur Wahrheit wird, wenn sich ein Kämpfer für ihre Rechte meldet“; „die Wahrheit, die die Welt gerade braucht, siegt nur im Kampfe“. Es geht allerdings um einen geistigen Kampf: „Ich glaube, dass die Wahrheit durch einen schweren geistigen Kampf siegt; die Wahrheit kann nich durch Agitation und politische Hetze erringen.“ „Die Wissenschaft darf nur mit Wahrheit den Irrtum bekämpfen“; „eine Wahrheit, die man dem Leben mit Gewalt aufträgt, ist eine Lüge“. Und zwar deshalb, weil es sich um eine Wahrheit handelt, „die jeder Einzelne für sich selbst ersinnen muss“, über die „keine Autorität entscheidet, sondern über die letzten Endes jeder selbst entscheiden muss“. Hierher gehört auch die gesamte Hervorhebung der Überzeugung als der individuellen, subjektiven Beziehung des Menschen zur Wahrheit. Die Wahrheit ist eine persönliche Überzeugung, nicht eine Sache.“ Und wieder geht es hier nicht um Subjektivität im Sinne der Eigenmächtigkeit, es geht überhaupt nicht um den Bereich der Vorstellungen, Auffassungen, Absichten und Gedanken; das ist nur eine Art, auf die Rádl versucht, zu den tiefsten Quellen der persönlichen Engagiertheit des Menschen hinabzusteigen. Nur in diesem Sinne muss man solche Äusserungen verstehen, wie „die Wahrheit kommt aus unserem Wesen hervor“ oder sie ist „die freie Tat der Gesinnung“ oder „Akt des Willens“. Rádl weiss sehr genau, dass „der Mensch nicht das letzte Mass der Dinge ist: die Wahrheit, die Gerechtigkeit sind höhere Masse als das Leben“. Was sollen wir also unter der persönlichen Engagiertheit, Überzeugung von der notwendigen Wahrhaftigkeit dessen, was ich für Wahrheit halte“, oder dem, dass es „keine wirkliche Wahrheit dort gibt, wo keine persönliche Befangenheit ist“, verstehen?

    Meiner Meinung nach werden wir die Auffassung der Wahrheit bei Rádl verstehen, wenn wir bei ihm einen engeren, unmittelbaren Zusammenhang der Wahrheit mit der Tat, Aktivität und Praxis statt mit einem Erkenntnisprozess und mit dem Denken überhaupt erkennen werden. „Nicht die Erkenntnis der Wahrheit, sondern die Tat ist hier primär und die Wahrheitserkenntnis steht in ihrem Dienst.“ Also ganz deutlich geht die Praxis der Theorie voraus. Denn die Wahrheit beruht nicht im Denken, in der Theorie, sondern vor jeder Theorie nähert sie sich der Tat, der Praxis. Allerdings weder in der Tat noch in der Praxis ist die Wahrheit enthalten, sondern sie geht ihnen voraus. So kommen wir bereits dem Begreifen dessen nahe, wie „das, was sein soll, der Urheber dessen ist, was ist“. Das bedeutet überhaupt nicht, dass die Wahrheit Dinge produziert; der Akzent auf der menschlichen Überzeugung und persönlichen Befangenheit deutet darauf hin, dass das Übergewicht oder besser die Übermacht der Wahrheit über den Dingen unbedingt eine menschliche (und allgemein gesagt eine subjektartige) Vermittlung erfordert, dass die Wahrheit durch den Mensschen siegt und das sie also den Menschen für ihren Sieg unbedingt benötigt. Das bedeutet allerdings auf der anderen Seite, dass unter diesen Umständen die Wahrheit wirklich eine Übermacht (und gar ein Übergewicht) über den Dingen ermöglicht und direkt konstituiert und dass sie also dem Menschen in seine Hände ihren Sieg anvertraut als seine hoffnungsvolle menschliche Sendung. Der Mensch ist deswegen etwas anderes als irgendein edles, vornehmes Ding, er ist zugleich und vor allem ein Nicht-Ding und zugleich ist er einer Verdinglichung (sowohl seiner selbst als auch der Wahrheit) fähig. Es besteht eine Grundaffinität zwischen dem Menschen und der Wahrheit, Verankerung in der nicht-gegenständlichen Wirklichkeit. Sie „führt“ ihn sowohl in seinen Handlungen als auch in seinem Denken. „Die letze Wahrheit, die zugleich auch die letzte Pflicht ist, ist ein Aufruf für uns, eine Herausforderung, was wir hier auf der Welt tun sollen.“ Zur Wahrheit führt der Weg „weder durch unsere Sinne, noch durch mystisches Schauen“; die Wahrheit kommt zu uns durch keine „Offenbarung als Verlautbarung irgendeiner Theorie“, eher „ruft uns ständig aus dem Übersinnlichen eine Stimme an: verlasse dich, kämpfe, hilf, die Wahrheit soll durch dich gewinnen.“ Ich halte es für wesentlich, dass Rádl bei einer solchen fürs Auge ungenügenden Formulierung verbleibt, durch die er nur andeutungsweise den wahren Charakter der Wahrheit erfasst, nämlich als Gesetz „du sollst“, die Stimme „verlasse dich“, „kämpfe“, „hilf“ und ähnliches. Nie geht es um fixierte Form dessen, was man soll, worauf man sich verlassen soll, wofür zu kämpfen, wie und wem zu helfen. Wenn ich Rádl richtig verstehe, geht es ihm um jenes Moment eines Lebensausschreitens oder nur einer Neigung zu solchem Aufbrechen zu dem, was „sein soll“, in dem wir auf einem völlig elementaren Niveau nicht nur bei weitem noch kein Wissen haben, was wir eigentlich verfolgen, was eigentlich in diesem Moment „sein soll“, sondern in dem dieses „sein soll“ in einer gegenständlichen, festen und fixierten Form, ja sogar im Entwurf nicht einmal besteht. Rádl geht es um Verlass noch in dem elementaren, primären Stadium, in dem wir noch nicht wissen, worauf wir uns verlassen, ja in dem hier noch überhaupt nichts gegeben ist, worauf wir uns verlassen könnten, worauf man sich überhaupt verlassen könnte. Man muss kämpfen im Sinne des Entschlusses zum eventuellen Kampf, noch bevor wir wissen, wofür und worum wir kämpfen könnten. Deshalb verweist Rádl auf das „Unbewusste, was nur manchmal und ohne den menschlichen Willen in das Bewusstsein strahlt, was allerdings den Menschen in seiner Handlung führt“; der Umfang der Engagiertheit und der Verankerung des Menschen in der Wahrheit überragt bei weitem, was wir bewusst zu kontrollieren schaffen. Rádl bezeichnet diese tiefe Verankerung als Glaube; aber er denkt nicht an einen Glauben, der in einer Tat, Handlung oder in Reflexion, in einer Theorie realisiert wird, sondern den Glauben, der überhaupt keine theoretische Erkenntnis der Dinge, sondern eine besondere Spannung der Seele ist, die sich für irgendeine Tat entscheidet“. Anderswo lesen wir später: „Der Glaube ist überhaupt kein Wissen, weder über natürliche noch übernatürliche Dinge, sondern er ist ein Vertrauen des Menschen, der sich für eine Tat entscheidet.“ Und weil auch die wissenschaftliche Arbeit eine Tat ist, gilt es, dass „die Wissenschaft überhaupt den Glauben an die Wahrheit, an die Macht einer methodischen Forschung und Erfahrung voraussetzt“. In diesem Sinne geht es dann letzten Endes in der Wissenschaft nicht um eine „Deckung der Aussage mit der Wirklichkeit, es geht nicht um Erkenntnis um der Erkenntnis willen“; die sachliche Wirklichkeit und Fakten aller Art „sind nur Reagentia, durch die wir unser Denken erkennen“ (hier würde dem Charakter des Problems eher eine andere Formulierung entsprechen: durch die wir unsere ursprüngliche Orientierung, unsere Verankerung geltendmachen, verwirklichen — und dann auch besser erkennen). Der Glaube bedeutet also bei Rádl Neigung zur Tat; „glauben“ bedeutet bei ihm „für ein Ziel arbeiten“. Das, was sein soll, muss man als Aufruf zur Lebenspraxis verstehen, ja, als letzten Grund und letzte Quelle für jede menschliche Praxis, für jede Umwandlung der Welt der Dinge. Die Wahrheit ist die Quelle der Aktivität, die Quelle der menschlichen Taten; mittels des Menschen ist sie zum Beweger der Dinge und der Geschichte geworden, sie ist die allererste Quelle von allem Neuen, von allen reformatorischen Taten; in ihr ist jede wahre Philosophie verankert, d.h. jede solche, die ein Program zu Weltreform darstellt.

    Die bemerkenswert scharfe Konzentration von Rádls Denken auf die Stelle, wo es zu direkten Kontakten zwischen der Wahrheit und dem Menschen kommt und wo eben deshalb der Mensch als Mensch, als ein durch Wahrheit gekennzeichnetes Wesen geboren wird, wirft trotz aller Ungenauigkeiten in Details ein neues, ungewohntes Licht selbst auf das Problem der Praxis. Und doch ist dieses Licht keineswegs jener Auffassung fremd, die als Ziel der Philosophie die Veränderung der Welt postuliert hat, obwohl hier auch prinzipielle Unterschiede nicht zu übersehen sind. Auch der junge Marx problematisiert das Verständnis der Wirklichkeit „nur unter der Form des Objektes“ und akzentuiert den „subjektiven“ Charakter der menschlichen Tätigkeit, der Praxis; auch für ihn gilt „die Aneigung der menschlichen Wirklichkeit, ihr Verhalten zum Gegenstand ist die Betätigung der menschlichen Wirklichkeit“. So ist es kein Wunder, wenn wir trotz sonst grosser Unterschiedlichkeiten eine überraschende Parallele zwischen den beiden Denkern finden. In seinem letzten Werk, das Rádl nach langen Jahren schwerer Krankheit kurz vor seinem Tode geschrieben hat, prägte er sein Wahrheitsverständnis mit folgenden Worten: „Nicht wir haben die Wahrheit, würde ich sagen, sondern die Wahrheit hat uns; wir setzen sie nicht fest, sondern wir werden in sie geboren.“ Einhundert Jahre vor ihm schrieb Karl Marx: die Wahrheit hat mich, ich habe sie nicht“. Was jedoch bei Marx als Aphorismus unser Interesse weckt, stellt bei Rádl einen wichtigen Ausdruck seiner tief durchdachten Wahrheitsauffassung dar.

    Bestimmt entstehen auf dem Wege Rádlschen Denkens auch Fragen, die nicht nur ungelöst, sondern auch unausgesprochen geblieben sind. Wenn z. B. für Rádl das, was sein soll, der Urheber dessen ist, was ist, dan reicht offensichtlich die menschliche Vermittlung bei der Verwirklichung der Wahrheit keinesfalls aus. Es wird vielmehr noch andere Vermittler geben müssen, die auch auf den niedrigeren und gar niedrigsten Ebenen wirken. Nicht nur das menschliche, sonder auch jedes aussermenschliche, subhumane Subjekt muss dann als etwas verstanden werden, was sich gegenüber der Wahrheit öffnet und was auch den Weg zur Verwirklichung der Übermacht der Wahrheit über den Dingen und dem Dinglichen überhaupt bahnt. Solche Perspektiven zur Ausarbeitung der ontologischen (sowie meontologischen) Voraussetzungen des Wahrheitsverständnisses bei Rádl sind zweifellos höchst lockend. Rádl hat offentsichtlich keinen Bedarf empfunden, die philosophischen Grundlagen seiner Auffassung in methodischer Ausarbeitung vorzulegen. Vielleicht ist ihm in der Eile aktueller Aufgaben nach dem ersten Weltkrieg einfach keine Zeit dafür geblieben, so dass seine Formulierungen in verschiedensten Büchen und Studien oder auch aktuellen Artikeln zerstreut bleiben. Sei es wie es sei, seine Auffassung ist bei weitem nicht undurchdacht; das zeigt sich bei einem sorgfältigen Studium seiner Texte immer mehr. Es ist eine wahrlich hinreissende Konzeption: Aufruf der Wahrheit, die eine „Garantie der Freiheit ist, die nicht darin beruht, was bereits fertig ist, sondern die sich zu der nocht nicht formierten Zukunft wendet, für die unsere Kräfte ein Versprechen darstellen und in die unsere Schwächen und Erfolge eingeschrieben werden“. „Ein starker Mann lebt durch die Zukunft: er greift nach lebenden Dingen, die es noch nicht gibt, und übersieht die Leichen der Dinge, die bereits gegeben sind. In die Zukunft ist die Welt weit offen; die Freiheit ist dort, wo der Mensch in freiem Schwung die Pläne des zukünftigen Laufes der Dinge zeichnet.“ Und eben diese Aufgeschlossenheit in die Zukunft hin ist das Werk der Wahrheit, nicht des eigenmächtigen Menschen. Solche Eigenmacht schliesst nur den Weg zur wirklichen, wahren Zukunft. In Rádls Auffassung ist die Wahrheit das Wesen und die einzige Quelle der Freiheit.

    1 Zie het slot voor een noot van de redactie. * Noot van de redaktie

    De auteur van dit artikel Ladislav Hejdánek, geboren in 1927 te Praag, studeerde aan de natuurwetenschappelijke en filosofische faculteit aldaar. Hij promoveerde in 1952 op het proefschrift Das Wahrheitsverständnis und einige seiner ontologischen Voraussetzungen. Zijn leermeester Jan Patočka werd in 1948 uit de faculteit verwijderd. Met uitzondering van drie jaar heeft de auteur zijn gehele leven niet in zijn vak kunnen werken omdat hij weigerde zich voor een Marxist uit te geven. Hij heeft, na de beeindiging van zijn studie, gewerkt als betonarbeider, corrector, vertaler en bibliothecaris. In 1968 werd hij als één van twee niet-marxisten benoemd aan het filosofisch instituut van de academie van wetenschappen, in het jaar 1970 echter, samen met vele anderen waaronder marxisten, weer ontslagen. Sindsdien heeft hij gewerkt als nachtwaker, stoker en administratief medewerker van een bouwfirma.

    In de jaren zestig, een tijd van relatieve liberalisering, heeft hij ruim honderd artikelen en recensies kunnen publiceren. Zijn Habilitation aan de theologische faculteit in 1970 werd door de autoriteiten verhinderd. Sinds die tijd heeft hij ook een publicatieverbod en circuleren zijn stukken slechts onder vrienden in de vorm van schrijfmachinecopieën. Bekend werden zijn Brieven aan een vriend waarvan ook een Italiaanse vertaling verscheen. Van 1977 tot 1979 was hij Charta woordvoerder. Hejdánek speelde ook een belangrijke rol in de jaren zestig en het begin van de jaren zeventig als deelnemer aan het ‘oecumenisch seminarie' te Praag waar een dialoog werd gevoerd tussen protestanten, katholieken, marxisten en atheïsten.

    Het artikel dat hier gepubliceerd wordt, was aanvankelijk bestemd voor een Festschrift voor Jan Patočka dat in 1976 onder de titel Die Welt des Menschen-die Welt der Philosophie bij Nijhoff in den Haag verscheen, maar kon om de bovengenoemde redenen niet verschijnen. De redactie van het ANTW heeft mede hierin aanleiding gevonden publicatie alsnog mogelijk te maken. Emanuel Radl (1873–1942) over wie het artikel handelt, speelde een belangrijke rol in het geestelijke en politieke leven van Tsjecho-Slowakije na de eerste wereldoorlog. Hij was eerst bioloog, werd later filosoof onder invloed van T.G. Masaryck, de eerste president van de Tsjechoslowaakse republiek. De filosofie was voor hem een vorm van geëngageerde deelname aan de samenleving. In 1934 was hij president van het achtste internationale congres voor filosofie te Praag.

    2 František Krejčí, Česká mysl (1930), 26, 426ff.

    3 Jan Kozák, Česká mysl (1917), 16, 254-273. — Česká mysl (1933), 29, 276-318.

    4 Zdeněk Smetáček: Kozák — Rádl — Hromádka. Praha 1931, S. 27-59.

    5 Jan Patočka, Česká mysl (1937), 33, 40-54.

    6 Aus Rádls Schriften werden in dieser Studie zitiert:

    (1909) Dějiny vývojových theorií v biologii XIX. století (Geschichte der Entwicklungstheorien in der Biologie des XIX. Jahrhunderts). Jan Laichter, Praha.

    (1914) Úvahy vědecké a filosofické (Wissenschaftliche und philosophische Betrachtungen). Grossman a Svoboda, Praha.

    (1918) Romantická věda (Romantische Wissenschaft). Jan Laichter, Praha.

    (1926) Moderní věda (Moderne Wissenschaft). Čin, Praha.

    (1928) Válka Čechů s Němci. Čin, Praha. (Auch deutsch erschienen: Der Kampf zwischen Tschechen und Deutschen. Stiepel, Liberec — Reichenbach.)

    (1929) Národnost jako vědecký problém (Nationalität als wissenschaftliches Problem). O. Girgal, Praha.

    (1932) Teorie a praxe (Theorie und Praxis), in Česká mysl, 28, 153-156.

    (1932–1933) Dějiny filosofie I.-II. (Geschichte der Philosophie I. II.). Jan Laichter, Praha.

    (1946) Útěcha z filosofie (Trost der Philosophie) Cin, Praha. (4. Aufl. 1969, Mladá fronta, Praha.)